Vor 70 Jahren wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt


1. Die Gewerkschaften sind zersplittert
2. Die Nazis erfassen ihre Gegner
3. Die Zerschlagung der kommunistischen Gewerkschaften
4. Der 1. Mai 1933: Ein Ablenkungsmanöver
5. Das Volkshaus wird besetzt
6. Die Funktionäre werden entlassen
7. Das Ende der christlichen Gewerkschaften
8. Die Arbeiter unter dem Hakenkreuz
9. Späte Wiedergutmachung
Vor 70 Jahren, am 2. Mai 1933, besetzten im gesamten Reich SA-Männer die Gebäude der Freien Gewerkschaften. In Rheine drangen an diesem Tage die Schlägertrupps der NSDAP in das Volkshaus in der Rosenstraáe ein, in dem außer der SPD auch das Ortskartell der Freien Gewerkschaften und der Ortsverband des Deutschen Textilarbeiterverbandes ihren Sitz hatten. Die Zerschlagung der Freien Gewerkschaften bedeutete einen wesentlichen Schritt zur Festigung der Position der neuen Machthaber, zur totalen Unterwerfung aller politischen und gesellschaftlichen Teilbereiche unter die Herrschaft des Nationalsozialismus.

1. Die Gewerkschaften sind zersplittert

Charakteristisch für die Arbeiterbewegung der Weimarer Republik war - wie schon in der Kaiserzeit - ihre Aufsplitterung in mehrere parteipolitisch orientierte Richtungsgewerkschaften. Dabei dominierten reichsweit mit über 80% aller organisierten Arbeitnehmer die der SPD nahestehenden Freien Gewerkschaften, zusammengeschlossen im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB); zweitstärkste Richtung war die der Zentrumspartei verpflichtete christliche Gewerkschaftsbewegung (13%), im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vereinigt.

Diese beiden Richtungen bestimmten auch das Bild der Gewerkschaften in Rheine, allerdings mit anderer Gewichtung: hier verfügten als jeweils stärkste Einzelgewerkschaften christlicher Textilarbeiterverband (1800 Mitglieder) und der zum ADGB zählende Deutsche Textilerarbeiterverband (2000 Mitglieder) etwa über den gleichen Einfluss.

Als dritte relevante Gruppierung war als Abspaltung von den Freien Gewerkschaften im Jahre 1930 die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) in politischer Abhängigkeit von der KPD entstanden. In Rheine verfügte der Einheitsverband der Textilarbeiter (EVT) als stärkste Einzelgewerkschaft innerhalb der RGO im letzten Jahr der Weimarer Republik zwar nur über etwa 60 Mitglieder; diese erwiesen sich jedoch in den Betrieben und auf der Straáe als auáerordentlich aktiv.

Die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung führte dazu, dass die einzelnen Richtungen sich vielfach gegenseitig bekämpften, ihre Aufgabe oft in der Zuarbeit zur jeweiligen Partei sahen und daher den herannahenden Nationalsozialismus nicht effizient bekämpfen konnten.

2. Die Nazis erfassen ihre Gegner

Kurze Zeit nachdem dem Fhrer der NSDAP, Adolf Hitler, am 30.1.33 das Reichskanzleramt übertragen worden war, bereiteten die neuen Machthaber Unterdrückungsmaánahmen gegen ihre politischen Gegner vor. Am 18.2.33 wurden die nachgeordneten Verwaltungsbehörden aufgefordert, innerhalb von 6 Tagen Listen beim Innenminister einzureichen, die die Namen der KPD-Führer, der Führer ihrer Nebenorganisationen, darunter der RGO, und der Führer der Freien Gewerkschaften enthalten sollten. Die entsprechende Meldung der Kriminalpolizei Rheine wies als Führer des RGO-Unterbezirks den Arbeiter Franz Stehning und als Führer des EVT den Textilarbeiter Bernhard Alfrink aus. Für die Freien Gewerkschaften wurden Andreas Simon als Sekretär des Textilarbeiterverbandes, Bernhard Fischer als Vorsitzender des Baugewerksbundes, Hermann Hänel als Führer des Metallarbeiterverbandes und Winand Hermanns für den Eisenbahnerverband gemeldet.

3. Die Zerschlagung der kommunistischen Gewerkschaften

Als am 28.2.33 in Berlin das Reichstagsgebäude brannte, nutzten die Nazis diesen Anlass, um gegen ihre Gegner loszuschlagen. "Zum Schutz von Volk und Staat" erließ Reichspräsident von Hindenburg eine Notverordnung, die - bis 1945 mehrmals verlängert - sämtliche Grundrechte außer Kraft setzte, angeblich um einem kommunistischen Aufstandsversuch entgegentreten zu können.

Mit dieser Handhabe wurden in den nächsten Wochen etwa 1/4 aller KPD-Mitglieder verhaftet; so wurde die Partei und ihre Nebenorganisationen faktisch zerschlagen, ohne dass es je zu einem förmlichen Parteiverbot gekommen wäre.

In Rheine wurde am 5.3.33 Franz Stehning, Führer des RGO-Unterbezirks, in Schutzhaft genommen. Weil er sich in der Haft "sehr gut aufführte", wurde er bereits am 13.4.33 wieder entlassen und betätigte sich danach nicht mehr politisch.

Erst am 18.3.33 konnte der örtliche EVT-Vorsitzende, Bernhard Alfrink, bei einer geheimen Versammlung von KPD-Funktionären in Emsdetten verhaftet werden. Er landete zunächst in den Gestapokellern von Recklinghausen, dann im Zuchthaus Münster, wurde aber am 3.6.33 mit der Verpflichtung entlassen, sich jeden zweiten Tag bei der Polizei zu melden. Weil er im November 1933 bereits wieder am Versuch, illegale Widerstandsgruppen der KPD aufzubauen, teilnahm, wurde er erneut mit 15 Genossen verhaftet und in das KZ Börgermoor-Esterwegen verschleppt.

4. Der 1. Mai 1933: Ein Ablenkungsmanöver

Seit 1890 hatten Organisationen der Arbeiterbewegung in aller Welt immer wieder versucht, den 1. Mai als einen Feiertag zu erkämpfen, an dem den Forderungen der Arbeiter durch Demonstrationen und Kundgebungen Nachdruck verliehen werden sollte. Dies war auch - abgesehen vom Jahr 1919 - in der Weimarer Republik nicht gelungen. Es muss daher als ein besonders geschickter Schachzug Hitlers betrachtet werden, wenn durch ein Reichsgesetz vom 10.4.33 der 1. Mai als "Feiertag der nationalen Arbeit" deklariert wurde.

Dieses Gesetz muáte vielen als die Einlösung der langjährigen Forderungen der Arbeiterbewegung erscheinen. Tatsächlich begrüßte auch der Bundesvorstand des ADGB die Neuerung und rief seine Mitglieder auf: "Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewuát demonstrieren, soll ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft werden."

Das Betrugsmanöver der Nazis ging auch in Rheine auf: Schon am frühen Vormittag wehten über allen Straáen schwarz-weiß-rote Fahnen und Hakenkreuzbanner. Von allen Kirchen läuteten die Glocken und gleichzeitig ertönten die Fabriksirenen.

In den Betrieben versammelten sich die Belegschaften zum Appell, um anschließend in einem Festzug mit 6 Kapellen und über 100 Fahnen in das Stadion an der Salzbergener Straáe einzuziehen. Hier lauschten die 12000 Versammelten der Übertragung der zentralen Veranstaltung aus dem Berliner Lustgarten. Anschließend wurden neue Sturmfahnen geweiht. Zum Schluss erklangen Horst-Wessel-Lied und Deutschlandlied.

Als sich am Abend die Arbeiter in verschiedenen Sälen der Stadt einfanden, um den Tag mit Musik, Gesang und Tanz ausklingen zu lassen, liefen anderenorts schon die Vorbereitungen für die Besetzung der Gewerkschaftshäuser am kommenden Tag.

5. Das Volkshaus wird besetzt

Schon am 21.4.33 hatte die NSDAP in einem Rundschreiben verfügt: "Dienstag, den 2. Mai 1933, vormittags 10 Uhr, beginnt die Gleichschaltung gegen die Freien Gewerkschaften. ... SA bzw. SS ist zur Besetzung der Gewerkschaftshäuser und der Inschutzhaftnahme der in Frage kommenden Persönlichkeiten einzusetzen."

Weisungsgemäß besetzte die SA in Rheine das Volkshaus in der Rosenstraße. In diesem Gebäude befanden sich nicht nur die Büros der Freien Gewerkschaften und der SPD, sondern auch eine Gastwirtschaft mit Saal und die Wohnung des Hausverwalters Mathias Thesing.

Die Polizei sah dem Treiben der SA tatenlos zu; in einem Funkspruch war sie von Innenminister Frick angewiesen worden, der Aktion "mit Gewalt- oder sonstigen staatlichen Machtmitteln nicht entgegenzutreten."

Bereits im Februar 1933 war es von seiten der NSDAP zu ersten Schikanen gekommen: Für etwa 8 Wochen hatte Thesing eine SS-Wache in seiner Wohnung einquartiert erhalten, unmittelbar neben seinem Schlafzimmer. Thesings alte Mutter wurde einmal mit vorgehaltenem Revolver aus dem Bett geholt. Mehrmals stürmten Nazitrupps die Gastwirtschaft und bedrohten alle anwesenden Gäste.

Die Maßnahmen des 2. Mai bedeuteten nun eine neue Qualität des Terrors. Das Volkshaus wurde beschlagnahmt, enteignet und wenig später der neugegründeten Deutschen Arbeitsfront (DAF), in der alle von den Nazis gleichgeschalteten Gewerkschaften zusammengefasst waren, übergeben. Die DAF stellte das Gebäude der Nationalsozialistischen Betriebszellenorgansiation (NSBO) zur Verfügung, die es bis 1937 als "Haus der deutschen Arbeit" führte.

6. Die Funktionäre werden entlassen

Der 2. Mai bedeutete das Ende der Freien Gewerkschaften. Andreas Simon, seit 1919 Leiter der Geschäftstelle Rheine des Deutschen Textilarbeiterverbandes, wurde für einige Tage in Schutzhaft genommen, nachdem auch seine Privatwohnung durchsucht und eine Schreibmaschine beschlagnahmt worden war. Zugleich wurde er aus seinem Dienstverhältnis entlassen. Simon war bis 1938 arbeitslos, danach übernahm er eine Pförtnerstelle bei der Fa. Kettelhack in Mesum.

Ähnlich traf die Beschlagnahmung des Volkshauses Mathias Thesing, der seit 1930 als Hausverwalter fungierte. Er konnte dieses Amt bis zum 1.9.33 fortführen, dann wurden ihm Arbeitsstelle und Wohnung gekündigt. Thesing musste in den nächsten 12 Jahren seinen Lebensunterhalt mit Notstandsarbeiten und als ambulanter Verkäufer für Waschmittel verdienen.

7. Das Ende der christlichen Gewerkschaften

Im April 1933 hatten die christlichen Gewerkschaften - ähnlich wie der ADGB - zur Teilnahme an den Maifeiern der NSDAP aufgerufen. Das hinderte die Nazis nicht daran, bereits Anfang Mai an den Häusern der christlichen Gewerkschaften Hakenkreuzfahnen zu hissen. Die hinter dem Verband stehende Zentrumspartei befand sich - wie alle bürgerlichen Parteien - Ende Juni 1933 unmittelbar vor der Selbstauflösung. Die Gleichschaltung der christlichen Gewerkschaften konnte sich daher relativ reibungslos vollziehen: Am 24.6.33 wurden in Rheine die Büros in der Antoniusstraße 8 besetzt und beschlagnahmt, die Organisation selbst der DAF zwangseingegliedert. Der Vorgang war der Lokalredaktion der Münsterländischen Volkszeitung gerade 7 Zeilen wert.

8. Die Arbeiter unter dem Hakenkreuz

In den nächsten Jahren zeigte sich recht deutlich, dass die Arbeiter von den neuen Machthabern keineswegs die Einlösung ihrer Forderungen erwarten durften, dass sie - im Gegenteil - systematisch ihrer mühsam erkämpften Rechte beraubt wurden.

Am 19.5.33 beseitigte das "Gesetz über die Treuhänder der Arbeit" Tarifautonomie und Streikrecht. Anfang 1934 gab das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" den Unternehmern, jetzt "Führer des Betriebes" genannt, das Recht, gegenber der "Gefolgschaft" in allen betrieblichen Angelegenheiten uneingeschränkt zu entscheiden.

In Rheine rief der gleichgeschaltete Textilarbeiterverband am 16.9.33 die Arbeiter auf, ihrer "selbstverständlichen Anstandspflicht" nachzukommen, dem Verband beizutreten, und drohte: "Möge keiner glauben, dass er, ohne in der Deutschen Arbeitsfront organisiert zu sein, noch Anrecht auf Arbeit hat."

Auch der 1. Mai änderte in den folgenden Jahren seinen Charakter: Seit 1936 bildeten die in der Damloup-Kaserne stationierten Soldaten einen wesentlichen Teil der Kulisse in der neu eröffneten Adolf-Hitler-Kampfbahn, dem heutigen Jahn-Stadion.

In einem allgemeineren Sinne fand die Tendenz zur Militarisierung der gesamten Gesellschaft ihren Ausdruck auch im Arbeitsleben. Im Dezember 1934 berichtete die Lokalzeitung über einen Besuch des DAF-Führers Ley in Rheine unter der Überschrift: "Soldat der Arbeit sein!" Und im Mai 1935 fragte die gleiche Zeitung: "Wo stehen wir in der Arbeitschlacht?"

9. Späte Wiedergutmachung

Nach dem Ende des Weltkriegs und der Nazi-Herrschaft ließ die Wiedergutmachung des 1933 geschehenen Unrechts recht lange auf sich warten. Im September 1945 beantragte Mathias Thesing bei der britischen Militärregierung die Rückgabe des Volkshauses. Das Verfahren zog sich in die Länge, auch deshalb, weil das Volkshaus zwischenzeitlich an einen Privatmann weiterverkauft worden war. Erst 1954 wurde es dem Deutschen Gewerkschaftsbund Übergeben. Der Verkauf des mittlerweile baufälligen Gebäudes an die Stadt Rheine schaffte die finanzielle Grundlage für den Neubau eines Gewerkschaftshauses, das 1962 am Kardinal-Galen-Ring 98 bezogen werden konnte.

Mathias Thesing selbst wurde erst in einem Berufungsverfahren am 13.10.49 als politisch Verfolgter anerkannt, was die Zahlung einer Sonderunterstützung zur Folge hatte.

Mittlerweile im Rentenalter, engagierte Thesing sich bis 1956 in der Ortsgruppe der SPD, die er im Stadtrat und im Kreistag vertrat. Für seine Verdienste erhielt er 1957 das Bundesverdienstkreuz.

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