Vortrag zum Lehrermangel: Bis 2030 fehlen bundesweit mindestens 81.000 Lehrkräfte
Seit Monaten an der Belastungsgrenze



Professorin Gabriele Bellenberg, Direktorin der Professional School of Education an der Ruhr-Uni Bochum, sprach am Donnerstag auf Einladung des GEW-Kreisverbandes Steinfurt zum Thema Lehrermangel.(Foto: mas)

-mas- RHEINE. Die Lehrergewerkschaften schlagen Alarm. Bis 2030 fehlen bundesweit mindestens 81.000 Lehrkräfte. Das ist zumindest das Fazit einer erst kürzlich veröffentlichte Studie von Professor i. R. Klaus Klemm. „Und Klemms Prognosen waren früher schon besser als die Zahlen der Kultusministerkonferenz – und und sie werden es heute wieder sein", sagte Professor Gabriele Bellenberg, Direktorin der Professional School of Education an der Ruhr-Universität Bochum, einst wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Klemm. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Kreisverband Steinfurt, hatte die Schulforscherin am Donnerstagabend in die Eventlocation Stadtpark Rheine eingeladen.
Was für die Wissenschaftler Zahlen und Statistiken sind, ist für Lehrerinnen und Lehrer - insbesondere an den Grundschulen - bitterer Alltag. Sie gehen seit Monaten an die Belastungsgrenzen. "Und für die Pflegekräfte, denen es auch nicht besser geht, wird wenigstens noch geklatscht," sagte eine Teilnehmerin sarkastisch. Ihre These: "Das was wir da seit Jahrzehnten erleben, ist systematisch. Die Politik weiß das, spricht in Sonntagsreden vom Wert der Bildung und dass unsere Kinder das höchste Gut sind, während sich das Bildungssystem Jahr um Jahr verschlechtert." Das System sei massiv unterfinanziert, Bildungsqualität und -gerechtigkeit weiter gesunken.
Dass die Schulen in NRW dramatisch unterbesetzt sind, bestätigte auch Bellenberg. Sie wies indes auf die enormen Unterschiede im System hin. Bei den Schulformen falle auf, dass die Gymnasien beim Thema Lehrermangel "so gut wie keine Probleme haben". Am schlimmsten treffe es die Hauptschulen, gefolgt von der eigentlichen Gesamtschule der Nation, den Grundschulen. Darüber hinaus gebe es gravierende regionale Unterschiede. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet, wo der Lehrermangel hoch dramatisch ist, stehe Westfalen noch recht gut da.
Was indes unter "recht gut dastehen" für Lehrerinnen und Lehrer an den Grundschulen im Kreis Steinfurt zu verstehen ist, zeigten GEW-Vertreterin und Grundschullehrerin Monika Kaymaz sowie eine weitere Lehrerin aus Rheine auf. "NRW steht bei Bildungsausgaben ganz hinten. Viele Grundschulen im Kreis sind nicht gut ausgebaut, sind marode. Es gibt nicht ausreichend Personal für Förder- und Differenzierungsunterricht. Und statt Entlastung gibt es für die Kolleginnen und Kollegen immer noch etwas obendrauf", sagte Kaymaz.
"Realität ist: Lehrkräfte arbeiten schon seit Langem und nochmals verstärkt durch die Pandemie an oder oberhalb ihrer Belastungsgrenze", formulierte es Udo Beckmann, Bundesvorsitzender der Schwestergewerkschaft VBE, Anfang Januar dieses Jahres bei der Vorstellung der Klemm-Studie.
Es sei heute - nicht nur in der Pandemie - üblich, dass eine Lehrerin gleichzeitig zwei Klassen betreuen müsse. "Das heißt dann, beide Klassentüren auf und dann mal hier hin und dann mal da hin", zeigte sich die Lehrerin einer Rheiner Grundschule frustriert. Deutsch als Zielsprache (DaZ), ein wichtiger Baustein für die Förderung der Kinder die noch nicht oder nicht ausreichend Deutsch sprechen, finde oft gar nicht mehr statt, weil die Kapazitäten fehlten (und die Kinder aus der Ukraine kommen erst jetzt in die Schulen). Zeit für die Ausbildung der Referendare und Referendarinnen? Gebe es kaum noch. Es werde zwar gesagt, dass es in der Lehrerversorgung im Kreis Steinfurt rechnerisch keine Lücken gebe, aber im Alltarg an der Schule "stimmt das nicht", sagte die Lehrerin. Die Realität sei eine andere.
Offensichtlich spricht sich diese Situation auch bei jungen herum. Die Zahlen derjenigen, die in den Lehrerberuf wollen, nehme ab, bestätigte auch Bellenberg. "Die jungen Menschen achten auch auf eine vernünftige Work-Life-Balance", sagte Kaymaz.
GEW-Vertreterin Sabine Fischer wies darauf hin, dass es zwar auch um die Lehrerinnen und Lehrer gehe. "Vor allem aber geht es um die Schülerinnen und Schüler. Die haben die Folgen eines unzureichenden Bildungssystems zu tragen."
Warum sich nichts ändert? "Mit Bildungspolitik gewinnt man keine Wahlen. Man verliert sie höchstens damit", sagte Bellenberg. In der Tat war das Interesse der Politik an dieser Veranstaltung gering. Einzig SPD-Landtagskandidat Dominik Bems war allein auf weiter Flur.

   Münsterländische Volkszeitung vom 13.04.2022